Warum wir unsere Berufe entgendern müssen
Neulich kam eine gute Freundin zu mir und beschwerte sich über strukturelle Benachteiligung in Business. Sie sieht einfach keine Karrierechancen trotz akutem Fachkräftemangel. Dabei hat sie eigentlich viel anzubieten:
Sie war viele Jahre Führungskraft in einem DAX-Unternehmen, leitete erfolgreich Field-Service und Sales-Teams mit millionenschweren Budgets. In einem MDAX-Unternehmen hat sie den Weg in HR eingeschlagen, übernahm die Corporate University wo sie 2017 die Auszeichnung für die „Best Corporate University Worldwide“ und im gleichen Jahr den „e-Learning-100!“ Award erhielt. Als direct report zum Vorstand wurde sie Senior Vice President und verantwortlich für Talent Development und Corporate Culture. Sie war seit Jahren in diversen Gremien aktiv, von Industrie 4.0 Arbeitsgruppen über acatech bis zur Allianz der Chancen. Sie ist Vorständin eines europäischen Verbands von Weiterbildungsunternehmen, hat Bücher im Kontext von hybridem Arbeiten, Denkfehler und Biases sowie Design Thinking geschrieben, ist Speakerin, aktiv in Podcasts, betreibt einen eigenen Newsletter zum Thema Decision Making und postet regelmäßig auf LinkedIn. 2025 hat sie sich als Unternehmensberaterin und Coach selbständig gemacht.
Seit längerem war sie auf LinkedIn „offen für Job-Angebote (für Recruiter)“. Was glauben Sie: wie viele Headhunter-Anfragen für Jobs in HR hat sie in den letzten 24 Monaten bekommen, bevor sie sich selbständig machte?
Es waren exakt 0.
Dafür mag es viele Gründe geben. Die Dame war überqualifiziert, nicht genug fokussiert, in den „richtigen“ Kreisen nicht genügend vernetzt.
Vielleicht lag es aber einfach nur daran, dass sie gar keine Frau war. Sondern, männlich, weiß und Mitte 50 (als sie – pardon – er sich selbständig machte).
Wenn ich diese Geschichte erzähle, ernte ich die unterschiedlichsten Reaktionen – oft in die Richtung von „man nennt das positive Diskriminierung, und die muss sein, damit sich was ändert“, bis hin zu „Recht so! Jetzt siehst du, wie es Frauen sonst überall die ganzen Jahre ging“. Eine befreundete CHRO sagte unlängst zu mir „Ja, das ist leider so, und ich glaube, wir übertreiben es in HR grade etwas“.
Mir geht es mit dem Blogbeitrag nicht darum, persönlich über diese Situation zu jammern. Ich habe ganz bewusst den Schritt in die Selbständigkeit gewählt und möchte auch nicht mehr im Corporate Umfeld fest angestellt sein.
Ich finde nur die dahinter versteckte strukturelle Genderselektion sehr bedenklich. Wenn sich Unternehmen eine größere Frauenquote damit schönrechnen, dass sie Bereiche wie HR oder Marketing „verweiblichen“, aber andere weiterhin männlich dominiert halten, dann erinnert mich das sehr an die Worte eines Ex-Bundeskanzler von „Frauen und Gedöns“.
Wollen wir wirklich eine Gesellschaft, in der es auf der einen Seite fast nur noch Lehrerrinnen, Erzieherinnen oder Assistentinnen gibt, und auf der anderen Seite nur Ingenieure, Piloten und Automechaniker? Ich hatte mal gehofft, wir würden davon wegkommen. Schau ich mir aber in einem typischen deutschen Unternehmen ein Team-Meeting einer HR-Abteilung und eines von Software- oder Produkt-Entwicklern an (im ersten 95% Frauen, im zweiten 85% Männer), dann habe ich daran meine Zweifel.
Was ist die Antwort darauf? Nun, sicher nicht der immer unsäglicher werdende Geschlechterkampf, wo es vielen Aktivist*Innen nicht mehr darum geht, Gleichberechtigung herzustellen oder das Patriarchat durch eine offene, freie Gesellschaft zu ersetzen, in der Geschlecht, Alter, Herkunft oder sexuelle Orientierung wirklich keine Rolle mehr spielen, sondern um die Einführung eines Matriarchats, verbunden mit der Ablehnung und Verdrängung all dessen, was verächtlich als männlich bezeichnet wird.
Wir müssen wieder zu einem Miteinander finden, nicht gegeneinander. Wenn wir schon Quoten einführen, um Dysbalancen zu beheben, dann bitte überall: Quoten für männliche Erzieher, Pfleger, Assistenten der Geschäftsleitung, HR-Mitarbeiter, Tierärzte, Hebammen (ja, das ist das offizielle Wort für diesen Beruf, auch für Männer).
Tatsächlich gibt es in vielen Berufsgruppen eine massive Unterrepräsentation von Männern (Frauenanteil in Prozent):
Erziehungs-, soziale und hauswirtschaftliche Berufe, Theologie: 83,7 %.
Medizinische Gesundheitsberufe: 81,4 %.
Nicht-medizinische Gesundheitsberufe, Körperpflege, Wellness, Medizintechnik: 78,6 %.
Recht und Verwaltung: 75,0 %.
Reinigungsberufe: 74,3 %.
Verkauf: 70,9 %.
Sprach-, Literatur-, Geistes-, Gesellschafts-, Wirtschaftswissenschaften: 66,8 %.
Unternehmensorganisation und -führung (Büro): 65,1 %.
Tourismus, Hotel, Gastronomie: 65,0 %.
Finanzdienstleistung, Rechnungswesen, Steuerberatung: 62,1 %.
Dieses Ranking basiert übrigens auf Daten von Statista aus dem Jahr 2021 (https://courage-lounge.de/die-10-berufsgruppen-mit-dem-hoechsten-frauenanteil/)
Was ich besonders schlimm finde, ist, dass Frauen selbst in diesen Berufsgruppen, in denen sie die Mehrzahl der Beschäftigten stellen, immer noch massiv unterrepräsentiert sind, wenn man in die Führungsetagen schaut. Das zeigt für mich sehr klar, wie wenig es bringt, Männer aus den Führungsrollen mit Quoten künstlich wegzuhalten. Wenn Frauen selbst in Berufsgruppen, wo es einen deutlichen Überschuss an weiblichen Talenten gibt (mit oft besseren schulischen Qualifikationen als die konkurrierenden Männer) keine Führungsrolle annehmen wollen, dann ist dieser Job offenbar nicht attraktiv genug für sie. Oder es gibt möglicherweise ganz andere Gründe und individuelle Interessen, die einer (Macht-)Karriere entgegenstehen.
Solange wir Jobs oder Rollen immer noch mit männlich und weiblich konnotieren, werden männlich und weiblich gelesene Menschen sich diesen „Normen“ entsprechend verhalten. Solange wir die Nase rümpfen über einen Erzieher im Kindergarten, weil er offenbar nicht genug Eier hat, sich in den Wettstreit mit anderen Alphas um die bestbezahlten Jobs (egal was man dort arbeitet) begibt, werden Männer den von ihnen erwarten Karriereweg beschreiten. Solange Mütter ihre Kinder nur mit Bauchgrummeln in einen Kindergarten geben würden, der nur von Männern betrieben wird (OMG, welche grauenhafte Vorstellung!), werden Männer Kindergärten als Ort zur Selbstverwirklichung scheuen. Solange Frauen glauben, noch härter und sowieso immer „besser“ als ihre männlichen Konkurrenten sein zu müssen, wenn sie selbst nach Macht und Kohle streben, werden wir an der Schieflage des Systems nichts ändern. Wir können nicht nur einseitig versuchen, Frauen in „Männer“-Berufe zu ködern, wir müssen alle Berufe entgendern. Und auch Macht und Karriere entmännlichen und nicht verweiblichen.
Wie schwer es ist, gegen die Schere im Kopf vorzugehen, zeigt eine nette Übungsaufgabe, die ich mit einer Kollegin für ein Diverstiy-Training entwickelt habe. (Die Kollegin stammt aus UK, hat selbst einen Migrationshintergrund und ist erkennbar keine Britin – ich erwähne das nur, weil sie allein deshalb für eine solche Aufgabenstellung für viele Leute glaubwürdiger ist, ein 59-jähriger männlicher, weißer Kollege aus Dresden es je sein könnte.)
Bei dieser Aufgabe wurden Probanden gebeten, für eine Stellenausschreibung die passenden Kandidaten zu finden. Um sämtliche Bias bezüglich Herkunft, Hautfarbe, Religion, Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung oder irgendwelcher Behinderungen zu vermeiden, wurden die Kandidaten nur mit Nummern versehen und alle biometrischen Informationen geschwärzt. Dann sollte – allein auf Grundlage der Qualifikationen – eine Rangliste erstellt werden, nach der die Kandidaten zum Interview eingeladen (oder, weil unpassend) gleich aussortiert werden. Wir haben anschließend die Identitäten der bevorzugten und aussortierten Personen bekannt gegeben und den Probanden die Möglichkeit geboten, ihre Entscheidung nochmal zu überdenken. Und hier zeigten sich sowohl Bias als auch Framing in ihrer vollen Wirkung. Wir hatten nämlich fieserweise die am besten bewerteten Leute mit dem (für den Job) „unpassenden“ Geschlecht versehen (z.B. waren es Männer in Frauenberufen) oder die aussortierten mit der „unpassenden“ Herkunft oder Hautfarbe (z.B. eine schwarze Person bei US-amerikanischen Teams).
Dann gab es Kommentare wie „das können wir so nicht machen, es sieht dann ja so aus, als hätten wir die schwarze Bewerberin diskriminiert.“ Oder: „Wenn wir einen Mann auf Platz 1 der Shortlist setzen, dann kriegen wir das nie bei unserer Chefin durch.“ Wie gesagt, es war ein Diversity-Training, und da wollte sich niemand nachsagen lassen, er oder sie sei rassistisch oder sexistisch. Aber ironischerweise sind es genau die gleichen Denkmuster, wie man sie in umgekehrter Richtung kennt: „Eine Frau als Vorstand für Produktentwicklung? Bloß nicht – bei HR meinetwegen, da passt es ja …“ Das wahre Problem ist also: wie haben die Berufe in unseren Köpfen gegendert. Und daher mein Appell: dieses Problem müssen wir lösen. Und das geht nur, wenn wir es in beide Richtungen angehen! Also mehr Männer in „Frauenberufe“, bis dieses Wort keinen Sinn mehr ergibt. Und natürlich auch weiterhin mehr Frauen in „Männerberufe“.
Und noch eins: Solange Macht und Geld Männer für Frauen attraktiv macht (und Frauen für Männer unattraktiv), werden wir auch auf der Führungsebene nichts ändern. Egal, wie sehr wie irgendwelche Quoten bemühen.
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